8 Die Rolle «Führungsperson»
→Theorie |
→Praxis |
→Vertiefung |
Theorie
Rolle – Was ist das?
Wir Menschen begegnen uns immer in bestimmten Situationen und Umständen. Wir kaufen beim Grossverteiler ein, fahren mit der SBB oder dem eigenen Auto nach Basel, wir stehen am Skilift an oder sitzen mit dem Ehepartner am Tisch und frühstücken. In all diesen Situationen verhalten wir uns so, wie es die Situation erfordert: wir sind Kunden, wir sind Teilnehmende im öffentlichen Verkehr oder Akteure im Privatverkehr, wir sind zahlende Konsumenten einer Dienstleistung oder wir sind Ehemann oder Ehefrau. In jeder Situation verhalten wir uns anders, aber wir verhalten uns nie zufällig. Wir befolgen immer Regeln und wir erfüllen die Erwartungen der Anderen: der Kunden, der Kassiererinnen, der anderen Passagiere, der Fussgänger und Autofahrerinnen, des Ehepartners. Verletzen wir die Regeln oder erfüllen wir die Erwartungen nicht, so drohen Irritationen oder gar Kollisionen. Verletzen wir dauerhaft und gravierend die Erwartungen, dann werden wir ausgeschlossen oder bestraft: wir erhalten Hausverbot beim Grossverteiler, wir werden von der Polizei gebüsst, wir dürfen den Lift nicht mehr benutzen oder unser Partner verlässt uns.
Eine Rolle ist das Bündel der Erwartungen, das sich auf die Person richtet, wenn sie eine bestimmte Position innehat. Rollen existieren nie für sich alleine; Rollen haben immer mindestens einen Gegenpart. Die Rollen in einer Situation sind aufeinander bezogen; d.h. die Erwartungen der Rollenträger/innen in einer Situation ergänzen einander komplementär.
Die allermeisten Rollen sind nicht exakt und abschliessend vordefiniert; es besteht ein Gestaltungsspielraum, wie eine Rolle ausgefüllt werden kann. Für uns Menschen ist die persönliche Prägung der Rolle sogar ein wichtiges Mittel, mit dem wir unsere Individualität und unsere Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Die Rolle des Auto fahrenden Verkehrsteilnehmers oder die Rolle des Ehemannes lässt sich bekanntlich sehr unterschiedlich interpretieren. Aber wichtige Kernelemente werden praktisch immer eingehalten. Das macht es möglich, dass selbst überaus komplexe Systeme wie der Privatverkehr erstaunlich gut funktionieren, obwohl sie weder zentral gesteuert werden noch eine permanente Überwachung des korrekten Verhaltens stattfindet.
Jede Rolle, die wir einnehmen, haben wir teilweise erwartungskonform übernommen, teilweise haben wir sie persönlich geprägt. Im Fachjargon wird das als Rollenübernahme und Rollengestaltung (role taking und role making) bezeichnet.
Praxis
Die Führungsrolle
Führungspersonen übernehmen einen Auftrag; die allgemeinste Umschreibung des Unternehmensauftrags heisst: „Mitarbeitende dazu bringen, betriebliche Ziele zu realisieren.“ Sie haben für die Erfüllung des Auftrags eine besondere Position, eben die Führungsposition, erhalten; an diese Position sind die Erwartungen gerichtet. Diese Erwartungen sind im Kern identisch und unabhängig von der konkreten Person, die auf diese Position berufen wird.
Die Erwartungen an die Führungsrolle sind aber nicht einheitlich und nicht widerspruchsfrei. Die bekannte Bezeichnung der Führungsposition als „Sandwich-Position“ umschreibt bildlich genau diesen Sachverhalt. Worin bestehen die unterschiedlichen Erwartungen?
Unternehmen und Geschäftsleitung erwarten, dass die Interessen des Unternehmens durchgesetzt und die vorgegebenen Ziele mit möglichst geringem Aufwand qualitäts- und termingerecht erreicht werden. Zudem erwartet die Geschäftsleitung, dass Führungspersonen besorgt sind, dass die im Unternehmen geltenden Regeln und Normen eingehalten werden. Falls die Zielerreichung gefährdet ist, werden Anstrengungen erwartet, um einen Fehlschlag zu vermeiden. Können die Ziele dennoch nicht erreicht werden, wird die rechtzeitige und wahrheitsgetreue Berichterstattung an die Geschäftsleitung erwartet. Fazit: Die Geschäftsleitung erwartet von der Führungsperson, dass sie als Unternehmensvertreterin handelt.
Die Mitarbeitenden sehen die Rolle der Führungsperson etwas anders. Sie erwarten, dass ihre eigenen Interessen erkannt und „gegen oben“ kommuniziert und verteidigt werden. Aus Sicht der Mitarbeitenden ist der eigene Vorgesetzte das Verbindungsglied zum Unternehmen. Erwartungen von Mitarbeitenden an das Unternehmen richten sich primär an den Vorgesetzten.
Zudem haben die Führungspersonen auf der gleichen hierarchischen Ebene Vorstellungen, wie „einer der ihren“ den Führungsauftrag erfüllt.
Die folgende Tabelle zeigt beispielhaft häufige Erwartungen an die Rolle des Vorgesetzten.
Erwartungen des Unternehmens an Führungspersonen | Erwartungen von Mitarbeitenden an die eigene Führungsperson |
Loyalität zum Unternehmen | Zielvereinbarung und -überprüfung |
Einsatzbereitschaft | Gerechtigkeit und Gleichbehandlung |
Realisierung der strategischen Vorgaben | Klarheit und Transparenz |
Eingriff bei Regelverstoss der Mitarbeitenden | Mitwirkung und Mitbestimmung ermöglichen |
Optimierung der Prozesse und Verfahren | Einsatz für Verbesserung der Arbeits- und Anstellungsbedingungen |
Erhöhung von Ausstoss und Qualität | Schutz vor übermässiger Belastung |
Mittragen unangenehmer Entscheidungen | Fordern / Förderung der fachlichen Entwicklung |
Faire Beurteilungen | |
Wertschätzung für Sonderleistungen | |
Offenes Ohr für fast alle Anliegen |
Nun wird eine Führungsperson nicht nur mit den Erwartungen der anderen Rollenträger konfrontiert. Sondern die Führungsperson hat ihrerseits eigene Ansprüche, wie sie die Rolle ausgestalten will. Abhängig von den eigenen Werten und Normen, vom Selbstbild und nicht zuletzt aufgrund der bisherigen Berufserfahrungen haben Führungspersonen oft recht klare Vorstellungen darüber, wie sie ihre Position ausfüllen wollen. Häufig orientieren sich Führungskräfte an Vorbildern, die sie aus der Mitarbeitenden-Position erlebt haben. Aussagen wie „So wie der X werde ich es sicher nicht machen!“ oder „Die Y, das war wirklich eine tolle Chefin, so will ich es auch machen!“ drücken das aus.
Nicht zuletzt bestimmt das private Umfeld die Überlegungen mit, wie eine Person ihre Führungsrolle gestalten möchte: die privaten Rollenerwartungen (Familie, Freizeit etc.) stehen zwar im Hintergrund, wirken aber mit nicht zu unterschätzender Kraft. Stark prägend ist die Biografie, Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte mit Führung und daraus entstehende innere Bilder.
Insgesamt sehen sich Führungspersonen einer komplexen Situation gegenüber: angesichts der Anforderungen der Aufgaben und der Situation müssen eigene und fremde, teilweise widersprüchliche Erwartungen unter einen Hut gebracht werden. In der Ausbalancierung der Erwartungen, ohne dass Motivation und Arbeitsfähigkeit der Beteiligten dauerhaft beeinträchtigt werden, liegt eine der grossen Herausforderungen der Führungsaufgabe. Ob die Führungspersonen ihre eigenen Vorstellungen tatsächlich in die Realität umsetzen können, hängt jedoch keineswegs von ihnen alleine ab.
Dieses umfassende Bündel von Erwartungen bringt die Führungsperson oft in nicht auflösbare Widersprüche. Dies ist unvermeidlich und stellt die Führungsperson vor eine zusätzliche Aufgabe: Widersprüche aushalten und einen persönlichen Umgang damit finden.
Klärung und Durchsetzung der Führungsrolle
Zum einen gibt es immer Spielräume, wie die Führungsrolle im Einzelnen ausgefüllt werden kann. Zum anderen treffen immer die Erwartungen unterschiedlicher Anspruchsgruppen (Mitarbeitende, Geschäftsleitung, Führungspersonen auf gleicher Hierarchiestufe) auf die eigenen Vorstellungen. Und drittens hat auch die Führungsperson Erwartungen an all die anderen Rollenträger im Unternehmen. Die Erwartungen der Rollenträger müssen mit einander in Einklang gebracht werden.
Es ist somit notwendig, für eine bestimmte Situation und angesichts der Beteiligten die Gestaltung der Führungsbeziehung festzulegen. Diese sogen. Rollenklärung ist ein eigentlicher Aushandlungsprozess, doch kommt der Führungsperson zweifellos das grössere Gewicht zu. Im Streitfall ist es das Recht der Führungsperson, ihre Vorstellungen von der Führungsbeziehung einzufordern. Die Rollenklärung ist kein einmaliger Vorgang, sondern bei wechselnder Teamzusammensetzung, je nach Dynamik in der Organisationseinheit und Entwicklung der Unternehmenskultur immer wieder einmal durchzuführen.
Es ist unwahrscheinlich, dass der Anstoss zur Rollenklärung von den Mitarbeitenden ausgeht; die hierarchischen Verhältnisse erzwingen es fast, dass die Führungsperson diesen Prozess anstösst und als erster die eigenen Vorstellungen offen legt. Üblicherweise gehört es auch zu den Erwartungen der Mitarbeitenden an ihre Vorgesetzten, dass sie diesen Prozess einleiten. Diese Rollenklärung setzt von der Führungsperson die Bereitschaft voraus, Feedback – auch kritisches – entgegen zu nehmen und ihre Rolle so zur Diskussion zu stellen.
Zusammenhang Führungsgrundsätze und Führungsrolle
Formuliert eine Geschäftsleitung Führungsgrundsätze, so macht sie damit ihre Erwartungen publik, wie die Führungsrolle gelebt werden soll.
Das Unternehmen stellt Ressourcen zur Verfügung, die die Rollendurchsetzung ermöglichen und erleichtern sollen. Zum einen ist jede Führungsposition mit mehr Kompetenz (im Sinne von Befugnis) ausgestattet als die Positionen der unterstellten Mitarbeitenden. Inhaber einer Führungsposition sind befugt, Weisungen zu erteilen und dürfen von den Mitarbeitenden erwarten, dass diese die Weisungen entgegennehmen und ausführen. Zum anderen geben Instrumente wie das Mitarbeitenden-Gespräch, das Entwicklungsgespräch, die Zielvereinbarung (etc.) den Führungspersonen die Gelegenheit, ihre Vorstellungen über die Gestaltung der Rollen in der eigenen Organisationseinheit zu thematisieren und zu klären.
In vielen Unternehmen sind diese Gespräche im Sinne einer Anordnung periodisch durchzuführen; als willkommener Nebeneffekt werden alle Beteiligten an ihre Rollen und Positionen erinnert. Denn jedes Unternehmen hat ein ausgesprochen grosses Interesse daran, dass die Mitarbeitenden die Führungspersonen in ihrer Führungsrolle annehmen und akzeptieren; Unternehmen tun vieles dafür, dass der Status der Führungspersonen unzweifelhaft erhalten bleibt. Auch „von oben“ soll der Status von Führungskräften nicht unterlaufen oder übersprungen werden. So gehört es zu den üblichen Erwartungen an die Mitglieder des oberen Kaders, dass sie die Zuständigkeiten der ihnen unterstellten Führungskräfte nicht übergehen.
Vertiefung
Dilemmata der Führungsrolle
Wenn effiziente und befriedigende Arbeitsbeziehungen aufgebaut werden sollen, ist es unerlässlich, die Rolle einer Führung zu klären. Dennoch bleiben einige Merkmale, die sich einer abschliessenden Klärung widersetzen. Denn Führungspersonen sind häufig mit Situationen konfrontiert, in denen es keine eindeutig richtige Lösung gibt. In verschiedener Hinsicht befinden sich Führende im Dilemma. Stellvertretend sind hier drei heraus gegriffen.
Das Dilemma „Objekt und Subjekt“
Führungspersonen können und müssen ihre Mitarbeitenden als Objekt, d.h. als Mittel zum Zweck, als Kostenfaktor (Leistungsträger, Stelleninhaber, Instrument) betrachten und sie können und müssen sie als Subjekte, d.h. als erwachsene, verantwortungsbereite Mitmenschen sehen. Führungspersonen müssen sich entscheiden, ob sie ihre Mitarbeitenden verplanen, berechnen und fremd bestimmen oder ob sie ihnen Entscheidungsfreiheit, Eigeninitiative und Selbstbestimmung zuerkennen. Unabhängig davon, wie eine Führungsperson ihre Rolle versteht, wird es Situationen geben, in denen die Entscheidung für die eine Position notwendig und möglich ist; und es wird umgekehrt Situationen geben, in denen die Führungsperson sich für die andere Position entscheiden muss. Aus Sicht der Mitarbeitenden werden damit jedoch die Erwartungen enttäuscht und es kann Irritation entstehen.
Das Dilemma „Kontrolle und Vertrauen“
Viele Führungsbeziehungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Führungspersonen im Vertrauen auf die Fähigkeiten, auf Einsatzbereitschaft und Loyalität der Mitarbeitenden lediglich die vorgelegten Ergebnisse überprüfen. Das setzt selbständige, kompetente und verlässliche Mitarbeitende, die sich selbst koordinieren und Vereinbarungen einhalten, voraus. Allerdings gibt es in fast jeder Arbeitsgruppe auch Mitarbeitende, die diese Voraussetzung (noch) nicht erfüllen; hier muss die Führungsperson häufiger und intensiver als vereinbart kontrollieren. Kontrolle ist immer auch ein Instrument der Disziplinierung und bestätigt die Macht des Vorgesetzten. Damit wird der Führungswert ‚Vertrauen’ unterlaufen.
Das Dilemma „Gleichheit und Individualität“
Mitarbeitende und Führungspersonen sind sich in der Regel einig, dass die Mitglieder einer Organisationseinheit alle gleich behandelt werden sollen, das gebietet nur schon die Norm der Gerechtigkeit. Gleichzeitig haben Mitarbeitende häufig den Anspruch, dass ihre individuellen Besonderheiten, seien dies fachliche oder persönliche Vorzüge oder Schwächen oder auch private Belastungen, gebührend berücksichtigt werden. Führungspersonen können sich diesem Ansinnen oft nicht entziehen und das mag zuweilen sogar im Sinne des Unternehmens sein. Aber es bricht mit der legitimen Erwartung an die Führungsrolle, keine individuelle Bevorzugung oder Benachteiligung zu praktizieren.